NACH OBEN

Auf der Such nach den richtigen Worten

Normalerweise braucht es eine gewisse zeitliche Distanz, damit Themen ins Visier der Geschichtswissenschaft kommen. Die Pandemie ist da ein besonderer Fall. Sie ist einerseits noch gar nicht Geschichte, weil das Virus weiter zirkuliert und seine Folgen weiter Menschenleben kosten. Andererseits ist das Geschehen erstaunlich rasch aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Es gibt kein ritualisiertes Gedenken und kein zugkräftiges Narrativ. Die meisten Menschen sehen die Pandemie in erster Linie als eine richtig doofe Sache, die nun zum Glück in der Vergangenheit liegt. Anscheinend hat das Virus nicht nur unsere Vorstellungskraft herausgefordert, sondern auch unser Bestreben, Geschichte sinnhaft zu erzählen.

Dieses Kolloquium ist der Versuch, diese Sprachlosigkeit zu überwinden und die richtigen Worte zu finden – wissend, dass jeder Vorschlag auf absehbare Zeit das Signum des Vorläufigen tragen wird. Damit die Worte nicht gleich wieder verhallen, gibt es diesen Blog, der die einzelnen Sitzungen dokumentiert. Er bilanziert in kurzer Form den jeweiligen Vortrag, die Diskussion und die Nachgedanken des Lehrstuhlinhabers in der Hoffnung, dass in der Gesamtschau eine Entwicklung zu etwas mehr Klarheit erkennbar sein wird. Es ist jedoch auch denkbar, dass dieser Blog eher eine wachsende Ratlosigkeit dokumentieren wird. Aber das wäre ja vielleicht auch ein interessantes Ergebnis.

Beobachtungen und Nachgedanken zu den Sitzungen des Corona-Kolloquiums von Frank Uekötter

25. April 2024

Nach 9/11 prägte Donald Rumsfeld den Begriff „unknown unknowns“. Es gebe im Kampf gegen den Terror gesichertes Wissen und gesichertes Unwissen, aber die größten Kopfschmerzen bereitete dem damaligen Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten das fehlende Wissen über die Dinge, die sie nicht kannten, aber kennen sollten. „Die Pandemie war voll“ von solchen „unknown unknowns“, sagte der Politikwissenschaftler Martin Florack vom Wissenschaftscampus NRW in Oberhausen in der heutigen Sitzung. Das war Teil eines bemerkenswert skeptischen Blicks auf die Rolle der Wissenschaft in der Pandemie. Es blieb nicht viel von der technokratischen Versuchung, aus dem Wissen der Experten klare Handlungsanweisungen zu destillieren, und das war wohl auch gut so. Wissenschaftliche Expertise könne und dürfe politische Entscheidungen nicht ersetzen, so Florack.
Aber wo war die politische Leitfigur, die die Notsituation zum energischen Regierungshandeln und auch zur eigenen Profilierung als entscheidungsfreudiger, durchsetzungsstarker Politiker nutzte? Die Stunde der Exekutive scheint auf Dauer keinem westlichen Politiker einen Karriereschub vermittelt zu haben, obwohl das doch bei früheren Großkrisen zum Standardprogramm westlicher Demokratien gehörte: Die existentielle Situation machte den Staatsmann. Oder ist das vielleicht ein archaisch-überzogene Erwartung? Florack verwies auf die Fernsehansprache Angela Merkels, die messbar zur Beruhigung der Gemüter beitrug und immerhin ein Jahr lang nachwirkte. Und ein Jahr war in der Pandemie ja schon eine ziemlich lange Zeit.
Florack war einer der Herausgeber des Aufsatzbands „Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten“, der 2021 bei Campus erschien und ein buntes Spektrum von Stimmen aus der Politikwissenschaft und angrenzenden Wissensfeldern versammelte. Auch hier zeigte sich, wie die Corona-Pandemie laufende Entwicklungen beschleunigen und zumindest zeitweise eskalieren ließ. Gesellschaftliche Kommunikation, Entscheidungsfindung und Entscheidungskompetenzen, Status wissenschaftlicher Expertise – es waren viele vertraute Fragen, die unter dem Eindruck des Lockdowns eine neue Dringlichkeit gewannen und entsprechend in diesem Band diskutiert werden. Nur die Verteilungsgerechtigkeit machte eine Pause, wie Peter Graf Kielmannsegg in seinem Beitrag bemerkte. Es gab Menschen, die in der Pandemie ihr Einkommen verloren und andere, die es ohne Abzüge weiterbezogen, aber interessanterweise fand „die Politik nirgendwo den Mut […], den Gedanken eines solidarischen Ausgleichs zwischen diesen beiden Gruppen auch nur ins Gespräch zu bringen. Sie zog es vor, die vielgerühmte Krisensolidarität der Menschen nicht wirklich zu erproben.“ (Peter Graf Kielmannsegg, Belagerte Demokratie: Legitimität in unsicheren Zeiten, in: Martin Florack, Karl-Rudolf Korte, Julia Schwanholz [Hg.], Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt 2021, S. 43-50; S. 45.)
Auch die Krisenrhetorik, die Florack in seinem Vortrag ausführlich diskutierte, war schon vor der Pandemie gut etabliert und erlebte dann ab März 2020 ein schrilles Crescendo. Florack sah die Gefahr einer inflationären Verwendung, die Loslösung von Entscheidungen aus dem politischen Normalbetrieb und den Abnutzungseffekt: Irgendwann war auch die dramatischste Krise irgendwie normal – die Klimakrise ließ grüßen. Zu diesen Bemerkungen starrten die Zuhörer minutenlang auf ein Bild des wütenden Hulk, aber irgendwie wirkte die Corona-Krise im Vergleich mit dem Erregungszustand des grünen Mutanten nicht mehr ganz so brisant. Es gab eine Menge Ärger und jede Menge Frust, aber von einem blindwütigen Amoklauf war die Politik dann doch ein gutes Stück entfernt. Es war nicht lustig, dass ein Donald Trump über das Injizieren von Desinfektionsmittel salbaderte (zumal einige Menschen anscheinend unter dem Eindruck der Worte des Präsidenten Desinfektionsmittel schluckten und daran verstarben), aber das war zumindest keine Bedrohung der amerikanischen Demokratie. Florack wies darauf hin, dass in der Pandemie die Ministerpräsidentenkonferenz, eigentlich ein reines Ländergremium, durch Einbeziehung der Bundesregierung als Bund-Länder-Konferenz zum maßgeblichen Organ der pandemischen Regulierung wurde, obwohl es weder Verfassungsrang noch förmliche Entscheidungskompetenz besaß. Aber wahrscheinlich braucht man schon einen Aluhut, um das skandalös zu finden.
Krise ist kein schönes Wort und auch kein sehr präzises: Florack nannte es „schön fluffig“. Es hätte markige Alternativen gegeben: zum Beispiel Katastrophe oder – Achtung, es Carl Schmitt-et – Ausnahmezustand. Zum Glück bot das Grundgesetz keine Möglichkeit, aufgrund eines Seuchengeschehens die Notstands-Artikel zu aktivieren, und so blieb den Grundrechten zumindest dieser Stresstest erspart. Im erwähnten Band warf die Mitherausgeberin Julia Schwanholz die Frage auf, ob der Gesetzgeber „das Grundgesetz um eine entsprechende Klausel erweitern will“ (Julia Schwanholz, Die Corona-Pandemie 2020: Befindet sich Deutschland im Ausnahmezustand?, in: Martin Florack, Karl-Rudolf Korte, Julia Schwanholz [Hg.], Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt 2021, S. 61-69; S. 68), aber dazu verspürt augenscheinlich niemand Lust. Vielleicht hat das rasche Verblassen der Pandemie auch seine guten Seiten.
Was bleibt dann von der Pandemie? Floracks Lektüreempfehlungen betrafen Bücher, die vor Corona erschienen, so etwa Dietrich Dörners „Die Logik des Misslingens“ und „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz. Ein literarischer Coup wie Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, die nach Tschernobyl auf dem Buchmarkt einschlug und jahrzehntelang nachhallte, ist offenbar niemandem gelungen. Stattdessen las man im Lockdown „Die Pest“ von Albert Camus oder Marc Blochs „Die seltsame Niederlage“ (letzteres ein Spiegel der Kriegsrhetorik, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede an die französische Nation mobilisiert hatte). Vielleicht braucht es ja ein paar Jahre Zeit und einen ordentlichen Historiker, aber dann ist es für ein ikonisches Wert wohl zu spät. Die Eule der Minerva fliegt erst in der Dämmerung, und dann ist es ja auch schnell zappenduster.
So bleibt nach drei Sitzungen, in denen die Regierungspolitik im Mittelpunkt stand, der Eindruck, dass sich westliche Regierungen mit viel Geld und ordentlichem Patchworking schon irgendwie durchgewurstelt haben. Die Fieberkurve stieg im zweiten Lockdown (Winter 2020/21) schon spürbar an, aber letztlich blieben die Werte unter der roten Schwelle, und letztlich kann man nur spekulieren, ob sich bei längerer Dauer der Krise eine vorrevolutionäre Stimmung entwickelt hätte. Für die zukünftige Corona-Geschichtsschreibung wird das Nachdenken über Zeit wichtig sein. Alle Beschränkungen waren nur möglich, weil sie für begrenzte Zeit gedacht waren und weil sie mit sehr kurzer Bedenkzeit beschlossen wurden. Entscheidungsstress, Schlafmangel, Versagensangst – zur Politikgeschichte von Corona gehören auch emotionale Zustände, die selbst in einem hektischen Politikerleben exzeptionell sind. Die Zeiten waren nicht normal – der Satz könnte in seiner ganzen Vielschichtigkeit ein Leitmotiv der Corona-Geschichte werden.
Aber vielleicht lohnt es sich, einmal eine Pause von der großen Corona-Politik zu nehmen. In der kommenden Woche berichtet die Psychologin Maike Luhmann über ihre Forschungen zur Einsamkeit. Da werden wir Historiker zuhören, ob sich da Wege für eine Corona-Geschichte von unten präsentieren.

18. April 2024

Heute kam der erste Gast in das Corona-Kolloquium, und es bedarf keiner ausführlichen Begründung, warum meine Wahl auf den Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte Malte Thießen fiel. Im Herbst 2021 hatte Thießen unter dem Titel „Auf Abstand“ eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie vorgelegt, übrigens begleitet von erheblichem Grummeln unter den Fachkollegen, dass es für eine solche Darstellung noch viel zu früh sei. Die Idee kam seinerzeit vom Campus-Lektor Jürgen Hotz, der Thießen ansprach, weil dieser sich ein paar Jahre zuvor mit einer Studie über das Impfen im 19. und 20. Jahrhundert habilitiert hatte. Seither kann ihm niemand mehr vorwerfen, ihm fehle der Mut zum Risiko.
Drei Jahre nach dem Erscheinen von „Auf Abstand“ schaute Thießen in seinem Vortrag konsequent nach vorne und diskutierte Potentiale und Perspektiven einer Corona-Geschichte. Begeistert sprach er über die Fülle digitaler Quellen, mit denen sich auch alltägliche Umgangsweise analysieren ließen, die in früheren Zeiten undokumentiert geblieben wären. Die damit verbundene Erweiterung des Blicks wog für ihn schwerer als die unvermeidliche Flüchtigkeit solcher Referenzen (einige der gezeigten Belege sind inzwischen nicht mehr verfügbar) und das Fehlen etablierter Routinen für die wissenschaftliche Dokumentation. Im Moment muss da ein Screenshot ausreichen.
In Buch und Vortrag konzentrierte sich Thießen auf Deutschland, und das verteidigte er ohne Gewissensbisse. Im nationalen und regionalen Rahmen ließen sich Ereignisse mit der nötigen Konkretion analysieren, und zudem waren nationalstaatliche Darstellungen notwendige Vorarbeiten für vergleichende Studien, die schon deshalb überfällig sind, weil die „Vergleichssucht“ (Thießen) während der Pandemie, die ständigen Seitenblicke auf andere Länder und Regierungen, geradezu nach einer nüchtern-wissenschaftlichen Aufarbeitung schreit. Wie sich in der Diskussion herausstellte, hatte Thießen sein Corona-Buch ursprünglich als Globalgeschichte konzipiert, die dann unter der Last der Aufgabe zu einer auf Deutschland fokussierten Studie wurde. Der These von Frank Biess, dass die Pandemie auch eine Projektionsfläche für Globalisierungsängste war, konnte Thießen einiges abgewinnen.
An der Aufarbeitung der Pandemie-Erfahrung sollten sich Historiker kritisch beteiligen, so etwa mit Blick auf die spürbare Sehnsucht nach Heilung durch Aufarbeitung. Ein Gesamtnarrativ sei dabei allenfalls für Episoden vertretbar, so etwa für die ersten Monate der Pandemie, für die Thießen durchaus von einer Erfolgsgeschichte sprechen wollte. Danach begannen die Ambivalenzen und Differenzen, die jedes Leitmotiv mit dicken Fragezeichen versehen. Es gab durchaus Solidarität und eine neue Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Sorgen und Ängste von alten Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen nicht mehr so einfach marginalisiert werden konnten wie in früheren Zeiten. Die Mehrheiten für Beschränkungen der persönlichen Freiheiten blieben bis zum Ende der akuten Krise ziemlich solide, aber darauf ist die bundesdeutsche Gesellschaft anscheinend nicht richtig stolz.
Soll man da als Historiker nachhelfen, indem man neben die Schmerzen und die Kosten nun die Leistungen einer Solidargemeinschaft rückt? In seinem Buch schrieb Thießen oft mit affirmativem Tonfall über die Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder, und dahinter stand offenkundig der Schatten der Querdenker und der Rechtspopulisten: Eine kritische Geschichte der Pandemie steht mit einer gewissen Unvermeidlichkeit im Verdacht, den Feinden der offenen Gesellschaft und der Wissenschaft nach dem Mund zu reden. Vielleicht wird sich das relativieren, wenn die Hitze des Moments sich ein wenig verflüchtigt. Oder vielleicht brauchen wir auch keinen ostentativen Kritikergestus, wenn es keinen Kardinalfehler gab? Der Angelpunkt einer revisionistischen Corona-Geschichte wäre der erste Lockdown, hastig beschlossen aufgrund von ersten Zahlen und Computersimulationen. Das war der entscheidende Schritt, der den Rahmen für alle weiteren Maßnahmen schuf, und bislang deutet viel darauf hin, dass es sich um einen vertretbaren Schritt handelte, der im zeitgenössischen Kontext geradezu eine Aura des Unvermeidlichen hatte. Was wäre wohl passiert, wenn sich diese drastischen Maßnahmen durch den weiteren Verlauf der Pandemie als überzogen herausgestellt hätten? Bislang wirkt der erste Lockdown jedoch gut legitimierbar, und damit stehen alle folgenden Einschränkungen prima facie in einem gnädigen Licht. Es musste halt sein.
Es ist schon ein wenig seltsam: Die Corona-Politik entwickelte sich in einem weitgehend präzedenzfreien Raum, der sich aber sehr schnell mit andersartigen Leitplanken füllte: durch den offenkundigen epidemiologischen Erfolg des ersten Lockdowns und die Erwartung eines Impfstoffs, der von Anfang an als Endpunkt des Elends vorgesehen war. Mit Analogieschlüssen kam man bei Corona nicht weit, ein Befund, den auch Thießen als ausgewiesener Experte für die Geschichte der Infektionskrankheiten bestätigen konnte. Dafür gab es stille Mächte, die das Spektrum der Möglichkeiten rasch schrumpfen ließen: Wissenschaftsglaube. Wohlfahrtsstaatlichkeit. Nationalstaaten als Ordnungsmächte. Corona war auch ein Lehrstück über Politik im Zeitalter von „there is no alternative“.
Als Kenner der Seuchenpolitik betonte Thießen die liberale Linie der bundesdeutschen Politik. Gemessen an dem, was laut Seuchengesetz rechtlich möglich gewesen wäre, wirken viele Regelungen recht nachsichtig. Das rückt so manche wohlpublizierte Polizeiaktion, mit der banale Verstöße unnachgiebig geahndet wurden, in ein anderes Licht. Aber wo bleibt da der kritische Stachel, den gute Wissenschaft doch eigentlich haben sollte? Im Moment scheint die Irritationsfunktion der Forschung im Corona-Kolloquium noch ausbaufähig zu sein. Aber wir fangen ja auch erst an.

11. April 2024

Vielleicht darf ich mit einem persönlichen Bekenntnis beginnen. Als ich nach der ersten Sitzung zu Hause ankam, habe ich mir erst einmal gründlich die Hände gewaschen. Das braucht man halt, wenn man zwei Stunden über Corona redet und dann in einen Stadtbahn-Wagen der Bogestra steigt, und das ist mehr als eine Anekdote. Es ist ein Spiegel unserer Situation in Frühjahr 2024. Corona verblasst, aber es braucht nur einen kleinen Impuls, und die pandemische Vergangenheit ist wieder quicklebendig.
Es gibt die Geschichte von COVID-19, und es gibt die persönlichen Geschichten. Wir sind alle Zeitzeugen in diesem Kolloquium, und deshalb haben wir in der ersten Sitzung mehr über die TeilnehmerInnen gelernt als in einem gewöhnlichen Seminar. Mein persönliches Highlight war der Erfahrungsbericht einer Studentin, die in der Pandemie Deutschunterricht für Menschen in fernen Ländern wie Mauretanien erteilt hat. Sie berichtete, wie begierig ihre Schüler auf Deutsch waren, weil sie dann nicht mehr von der Propaganda ihrer Regierungen abhingen. So gut sah der Westen aus, wenn man woanders lebte.
Ein Student sprach von der kognitiven Dissonanz beim Umgang mit COVID-19, aber das macht die Beschäftigung mit dem Thema ja auch interessant. Was reizt den Historiker mehr als ein Haufen ungeordneter Ereignisse? Zumal ja wirklich niemand an der Relevanz des Themas zweifeln kann. Keine Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts wird die Pandemie übergehen können, und sie wird auch mehr sein als eine Episode. Die Diskussion zeigte, dass COVID-19 ein famoser Katalysator für laufende Entwicklungen war: von der Desinformation bis zum Vertrauensverlust des Staates.
Am Anfang dieser Vorlesungsreihe standen zehn Thesen, mit denen ich als Organisator des Kolloquiums ein Ereignis zu greifen suchte, das den Rahmen des kollektiven Gedächtnisses zu sprengen schien. Dabei ging es gleichermaßen um die Einordnung des Geschehens in die Geschichte der jüngsten Vergangenheit und um den Wert der historischen Expertise. In Absprache mit Malte Thießen, der in der kommenden Sitzung vorträgt, habe ich mich dabei vorrangig dem globalen Kontext gewidmet, obwohl sich die Grenze kaum trennscharf ziehen lässt – eine Erfahrung, die sich vermutlich durch die Veranstaltung ziehen wird. Wenn es um Corona geht, werden viele Dinge ziemlich schnell unscharf.

  1. Historiker können zum Verständnis der Pandemie beitragen, indem sie Fragestellungen und Perspektivierungen kritisch reflektieren.
  2. Die Pandemie war auch ein Festival spezialisierter Expertise. Das sollten HistorikerInnen nicht reproduzieren, sondern konsequent auf Kontextualisierung im gesamtgesellschaftlichen Kontext drängen: Es gibt tatsächlich nur eine Geschichte.
  3. Die Frage nach dem Ursprungsort des COVID-19-Virus wird überschätzt. Dahinter steckt eine Sehnsucht nach narrativer Eindeutigkeit und eine irreführende Projektion von menschlichen Kategorien auf nichtmenschliche Akteure. Anders als Menschen haben Viren keine Urintention.
  4. Produktiver als die Frage nach dem Ursprung ist die Frage, warum die präventive Einhegung des Virus misslang. Hier sind als wesentliche Faktoren der Wandel Chinas sowie die Krise der transnationalen Verständigung zu diskutieren.
  5. Das Mandat für präzedenzlose Maßnahmen entstand nicht nur durch medizinische Erkenntnisse, sondern auch durch global zirkulierende Bilder.
  6. In der Bekämpfung der Pandemie wurden territorialstaatliche Regierungen zur entscheidenden Instanz, die jedoch in einem engen Korridor legitimer Maßnahmen agierten, der durch transnationale Austauschprozesse entstand.
  7. Im Umgang mit der Pandemie wurden westliche Demokratien zur globalen Leitinstanz – so schnell und selbstverständlich, dass es Zweifel am gängigen Narrativ vom Ende der Hegemonie des Westens nahelegt.
  8. Die Verbindung von offener Kommunikation, individueller Initiative, wissenschaftlicher Kompetenz, Verantwortlichkeit der Regierenden gegenüber mündigen Bürgern und wohlfahrtsstaatlicher Flankierung notwendiger Einschränkungen erwies sich auch für rechtspopulistische Regierungen als alternativlos.
  9. Größtes Manko der staatlichen Politiken war der Vorrang des Quantifizierbaren. Aspekte, die sich mit Zahlen beschreiben ließen, bekamen in aller Regel Priorität vor jenen Dimensionen, die sich nicht oder nur begrenzt mit Zahlen greifen ließen.
  10. Das rasche Verblassen der Katastrophe wurde auch durch eine volltönende Sprachlosigkeit begünstigt: Es fehlen die Begriffe, die Konzepte, die Erzählungen, die nicht nur individuelle Erfahrungen wiedergeben. Die Suche nach Worten ist damit eine wesentliche Vorbereitung für die nächste Katastrophe.

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