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Blog zum Hauptseminar "Die Siedler. Eine Weltgeschichte"

10. Dezember 2024
Es gibt eine Menge, was einem zur Geschichte Israels einfällt. Wasserbüffel werden dabei meist eher selten genannt, und gleiches gilt für Bienen, Ziegen, Schafe und Kühe. Diese Tiere sind die animalischen Helden in Tamar Novicks Buch "Milk and Honey", das die biblische Prophezeiung des Lands von Milch und Honig wörtlich nimmt und schaut, wie es denn bei den Tieren und ihren Produkten im Gelobten Land aussah. Bislang standen stets Menschen mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten im Mittelpunkt der Veranstaltung, aber in Siedlergesellschaften laufen auch eine Menge Tiere mit durchaus beträchtlichem Eigensinn durch die Landschaft. Das kann durchaus Probleme schaffen, etwa wenn Ziegen die Setzlinge für Aufforstungsprojekte wegfuttern. Ziegen waren deshalb keine Lieblingstiere der Zionisten, auch für die Wasserbüffel war im Palästina des 20. Jahrhunderts immer weniger Platz – wobei die Zionisten einen Unterschied zwischen schwarzen und weißen Ziegen machten. Ja, wirklich.
Novicks preisgekröntes Buch erweitert nicht nur das Spektrum der Akteure. Wenn man nützliche und weniger nützliche Tiere als Teil des zionistischen Siedlungsprojekts in den Blick nimmt, wirkt Israel gar nicht mehr so außergewöhnlich. "Milk and Honey" behandelt viele Themen, die wir bereits für andere Länder als relevant erkannt haben: die große Bedeutung wissenschaftlicher und technischer Optimierungshoffnungen, die klandestine Aneignung lokalen Wissens, der instrumentelle Blick auf Landschaften und ihre Bewohner, die Angst vor Desertifikation, der Übergang von extensiver zu intensiver Landnutzung, die Sorge um Fruchtbarkeit in Regionen im Umbruch – wenn man ökologisch, ökonomisch, wissenschaftlich oder technisch ansetzt, wirkt Israel plötzlich wie eine ganz gewöhnliche Siedlerkolonie. Nur waren die Ankömmlinge hier zufälligerweise mal jüdisch.
Es lohnt sich, beim Thema Israel/Palästina einmal anders anzufangen. Das Kopfkino übernimmt sonst rasch die Regie, und dann geht es nur noch um Politik, Religion und schrecklich viel Blut. Immerhin gab es in den Tagen vor der Sitzung mal Nachrichten aus dem Nahen Osten, die Grund zum Jubeln gaben, denn in Syrien wurde ein Diktator gestürzt. Sowas kommt ja leider nicht mehr oft vor. Über Syrien nach Assad haben wir heute nicht gesprochen, zumal wir dabei wohl kaum über die Mutmaßungen und Hoffnungen hinausgekommen wären, die gerade in großer Zahl auf dem Meinungsmarkt zirkulieren. Es ist nicht das geringste Problem des Nahen Ostens, dass wir schon so oft gehofft haben und enttäuscht wurden, dass wir uns kaum noch trauen, optimistisch zu sein. Vielleicht entsteht ja doch ein stabiles, friedfertiges, tolerantes Land, vielleicht sogar mit Menschenrechten und Demokratie.
Es war unvermeidlich, in der Sitzung nicht bei den Tieren zu bleiben, sondern auch über den Konflikt zwischen Palästinensern und jüdischen Israelis zu sprechen, der im späten 19. Jahrhundert begann und bis heute viele traurige Nachrichten produziert. Es ist nicht nur die Länge des Konflikts, die Palästina/Israel zu einer besonderen Fallstudie macht. Weil die Zeit knapp wurde, sammelte ich Stichworte zur Besonderheit während des Referats, und die Tafel füllte sich rasch: die Siedler als Flüchtlinge vor einem bedrohlichen Antisemitismus, die Welt der Bibel als religionsübergreifender Assoziationsraum, Israel als legitimer Besitz der Juden in alttestamentarischer Zeit, der nun im 20. Jahrhundert zurückgefordert wurde (eine Kornkammer des römischen Reichs hatten wir schon, aber das ist doch kein Vergleich zum Jerusalemer Tempelberg), ständige Konflikte in Form militärischer Konflikte mit Armeen auf beiden Seiten, die zentrale Rolle benachbarter arabischer Länder, die aber kaum je gemeinschaftlich agierten und erst recht nicht als Befreiungskämpfer für Palästinenser in Erscheinung traten, die umstrittene Rolle der Mandatsmacht Großbritannien bis 1948, gefolgt von der großen Bedeutung der Supermächte USA und Sowjetunion, die Sensibilität der medialen Weltgemeinschaft – all das ist in der Welt des Siedlerkolonialismus ungewöhnlich und einzigartig in dieser Kombination, und noch dazu kommt all dies in einem engen geographischen Raum zusammen. Israel ist ohne die besetzten Gebiete etwa halb so groß wie die Schweiz.
Es ist eine Menge passiert, seit Theodor Herzl sein Buch "Der Judenstaat" schrieb, und mit der Vielzahl der Ereignisse kämpften die Referenten im zweiten Teil der Sitzung. Willkommen zur Geschichte des Nahen Ostens: Es passiert oft mehr, als man auf die Schnelle verarbeiten kann, und eine Geschichte Israels oder Palästinas, die eine vollständige Behandlung aller wichtigen Ereignisse verspricht, diskreditiert sich mit einem solchen Anspruch nur selbst. Aber soll man deshalb von einem "hundertjährigen Krieg" sprechen, wie es Rashid Khalidi im Titel des Buches macht, das als zweites vorgestellt wurde? Genauer: Soll man die Geschichte einer Weltregion auf Kriege und Kriegserklärungen reduzieren? Wieder einmal erfuhr man bei Khalidi kaum etwas über den Alltag der Menschen, über Gesellschaft und Wirtschaft, als hätten die Palästinenser tagaus tagein nur an ihre Befreiung gedacht und die jüdischen Siedler an Okkupation.
Rashid Khalidis "The Hundred Years' War on Palestine" präsentiert eine palästinensische Sicht des Konflikts, und zwar mit wissenschaftlichem Anspruch, aber ohne jeden Schein von Unparteilichkeit. Wie sehr das auf dem heutigen Buchmarkt zieht, merkte ich im Oktober während eines Buchs in London, wo ich in der Waterstones-Buchhandlung in der Gower Street (kein Geheimtipp, aber eine gute Adresse für wissenschaftliche Literatur) einen eigenen Büchertisch für Khalidis Band vorfand. Zu den Lesern gehört anscheinend auch US-Präsident Joe Biden, jedenfalls ausweislich eines Skandalfotos im konservativen Revolverblatt "New York Post", das wir in der PowerPoint sehen konnten. Khalidi ist Wissenschaftler an der Columbia University, schreibt aber zugleich als lebenslanger Kämpfer für die Rechte der Palästinenser und als Mitglied einer reichen und gebildeten Familie aus Jerusalem. Das verleiht der Darstellung eine Doppelbödigkeit. Wenn er die Zwietracht der Araber im israelischen Unabhängigkeitskrieg beschreibt, dann wirkt das wie ein Appell zur Einigkeit an heutige muslimische Entscheidungsträger.
Aber vielleicht sollte man das Buch gerade deshalb lesen: als Fenster in die Gefühlswelt von Menschen, die seit mehr als einem Jahrhundert auf der Verliererseite stehen? Als Geschichte von Menschen, die sich als Besiegte und Betrogene fühlen? Was ist der richtige Tonfall einer Geschichte des Siedlerkolonialismus, die nicht von den Gewinnern geschrieben wird? Es fehlte die Zeit, heute darüber nachzudenken, aber hoffentlich können wir das in der nächsten Sitzung nachholen. Dann soll es nämlich auch um eine erste Zwischenbilanz gehen.

3. Dezember 2024
Man ist versucht, die Geschichte des heutigen Zimbabwe vom Ende her zu erzählen. War das nicht von Anfang an eine unmögliche Siedlerkolonie, ein Projekt, das über kurz oder lang einfach scheitern musste? Die weißen Siedler waren auch in den Hochzeiten des britischen Kolonialismus eine schmale Minderheit, die kaum über fünf Prozent der Gesamtbevölkerung hinauskam. Es gab keine vertretbare Begründung, warum diese Gruppe die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens bewirtschaften sollte: Selten war eine Landreform so gut legitimierbar wie in Zimbabwe. Es gab auch – anders als in Algerien – keinen europäischen Staat im Hintergrund, der viel symbolisches und reales Kapital in die Unterstützung des Siedlerprojekts investierte und die Herrschaft der weißen Minderheit mit massivem Militäreinsatz absicherte. Nein, das konnte eigentlich nicht gut gehen.
Die Folgen zeigen sich in den beiden Büchern, die in der heutigen Sitzung diskutiert wurden: Heike Schmidts "Colonialism and Violence in Zimbabwe" und Jocelyn Alexanders "The Unsettled Land". Beide Autoren präsentieren unruhige Geschichten, ständige Konflikte um Land und zwischen bewaffneten Gruppen, und Phasen der mittelfristigen Stabilität sucht man vergeblich: Mehr als einen vorübergehenden Rückgang in der Intensität der Konflikte gab es offenkundig nicht. Beide Bücher verzichten auf eine teleologische Perspektivierung und schilderten Auseinandersetzungen in ihrer jeweiligen Zeit, eine durchaus gewöhnliche historiographische Übung, die wir unseren Studierenden eigentlich als gute wissenschaftliche Praxis vermitteln. Hier fühlte sich dieser Weg jedoch etwas merkwürdig an. Wieviel Offenheit verträgt eine Darstellung, die ein schreiendes Unrecht behandelt, das einfach keinen Platz in einer postkolonialen Welt finden konnte?
Mit Alexander rückte erneut die Frage des Landbesitzes und des Blicks auf das fruchtbare Land in den Blick, die wir zuvor für Australien diskutiert hatten. Neu wirkte insbesondere die Rolle der Chiefs, mit denen die weißen Siedler im damaligen Rhodesien ihr Regime zu stabilisieren suchten. Chiefs genossen Privilegien, aber ihre Zwischenstellung in einem schier unlösbaren Konflikt war zugleich ausgesprochen unbequem, und da fanden Chiefs unterschiedliche Wege. So kam es schon mal vor, dass ein Chief alkoholisiert vor Gericht erschien und das auch überhaupt nicht entschuldigungsbedürftig fand. Oder soll man statt "Chiefs" lieber von "Häuptlingen" reden? Mein Mitarbeiter David Drengk, der als Afrikanist über Malawi forscht, wies darauf hin, wie sehr manche Begriffe in manchen Zirkeln tabuisiert sind, was ich vielleicht ein wenig brüsk unter Verweis auf die Unterschiede Berliner und Bochumer Studierendenschaften konterte. Bislang sind wir ohne mühselige terminologische Diskussionen durch die Veranstaltung gekommen, und es wäre mir nicht unlieb, wenn das so bleiben könnte. Ein moralisch tadelloses Vokabular kann es ja auch kaum geben bei einem Geschehen, das heute niemand mehr für legitimierbar hält.
Die schwierigsten Diskussionen löste jedoch Schmidts "Colonialism and Violence in Zimbabwe" aus. Man kann nicht Siedlerkolonialismus diskutieren, ohne über Gewalt zu reden, und davon gab es schrecklich viel in der Grenzregion zu Mosambik, die Schmidt für ihre Fallstudie auswählte. Das wäre schon verstörend genug, aber Schmidt kritisierte zugleich die westliche Wahrnehmung von Gewalt und betonte den Wert indigener Rituale des Heilens, ja sie sah darin sogar ein Vorbild jenseits des afrikanischen Kontextes. Aber läuft es nicht auf eine Verharmlosung hinaus, wenn man afrikanische Wege feiert, mit dem Unaussprechlichen umzugehen?
Mit dem Ideal des staatlichen Gewaltmonopols, das wir von der westlichen Moderne kennen, kam man in Zimbabwe nicht weit. Es gab keinen Akteur, der einen solchen Anspruch glaubwürdig erheben konnte. Aber wie redet man über Gewalt als Dauerzustand, ohne über einen allgemeinverbindlichen Bewertungskontext zu verfügen? Es entstand eine vorsichtige, tastende Diskussion, und das konnte wohl kaum sein bei einem schwierigen Thema, bei dem plötzlich das vertraute moralisch-politische Fundament fehlte. Letztlich brachte das Gespräch weniger Antworten hervor als das gemeinsame Gefühl einer tiefen Ratlosigkeit, und das war hier ausnahmsweise mal Teil der Lernerfahrung. Gewalt ist entsetzlich, erst recht dann, wenn man keine Worte mehr hat, um die Gewalterfahrung zumindest semantisch in den Griff zu bekommen.

26. November 2024
Die heutige Sitzung diskutiert mit Algerien ein Land, das zum französischen Kolonialreich gehörte, ja geradezu Herzstück des französischen imperialen Projekts war. Der Grund für diese Auswahl war einerseits Kontext für die Diskussion über Franz Fanon im Januar, zum anderen ein Kontrast zum angelsächsischen Schwerpunkt des sonstigen Hauptseminars. Soll man die Siedlerkolonie Algerien als spezifisch französisches Projekt sehen, oder überwiegen die Ähnlichkeiten mit den USA und Australien? Es ist eine zentrale Frage der Veranstaltungen: Soll man von einem globalen Projekt des Siedlerkolonialismus reden oder vielmehr von vielen verschiedenen Projekten mit mancherlei Ähnlichkeiten, aber jeweils eigenem Verlauf? Und soll man diese Entscheidung eher empirisch-analytisch oder moralisch-politisch begründen?
In der heutigen Sitzung wurden zwei Bücher präsentiert: "By Sword and Plow" von Jennifer Sessions und "Resurrecting the Granary of Rome" von Diana Davis. Anders als in vorigen Sitzungen ging es jedoch weniger um die Bewertung der Bücher als um das, was sich aus diesen Büchern für ein Gesamtbild herausziehen ließ. In beiden Büchern wurden Besonderheiten erkennbar. Sessions betont in ihrer Kulturgeschichte des französischen Imperialismus die große Bedeutung der französischen Regierungen und der politischen Kultur, was dazu führte, dass Algerien auf eine ungewöhnlich enge Weise an Frankreich gebunden wurde: Seit 1848 gab es drei französische Departements in Algerien, die den übrigen in Frankreich gleichgestellt waren – mit dem Unterschied, dass nur die Stimmen der Siedler zählten. Davis betont die Imagination eines einst fruchtbaren Landes und das Narrativ einer Degradation des Lands durch arabischen Nomadismus. Aber waren das vielleicht nur Variationen eines globalen Musters? Die Marginalisierung der Indigenen und ihres Wissens, die zivilisatorische Mission des weißen Manners, das Übergewicht des Männlichen, die zentrale Rolle des Zugriffs auf Land und der Unterschied zwischen dem westlichen Eigentumsrecht mit den komplexeren, eher Nutzung als Besitz betonenden Rechtskategorien der Einheimischen, die Ausrichtung auf Agrarproduktion für kapitalistische Märkte, die militärische Gewalt im Zuge der Eroberung – all das lädt zu Vergleichen mit USA und Australien ein.
Bewusst wurde dabei das 19. Jahrhundert in den Blick genommen. Es lässt sich schwer bezweifeln, dass die Dekolonisierung Algeriens in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein außergewöhnlich dramatisches und blutiges Ereignis war: ein schrecklicher Bürgerkrieg über acht Jahre, der Regierungskrisen im Mutterland auslöste bis hin zum Kollaps der vierten Französischen Republik – da sucht man vergeblich nach Parallelen in Australien und USA. Vergleichbar wäre Algerien allenfalls mit dem Ende des portugiesischen Kolonialreichs: auch das ein langer Prozess mit exzessiver militärischer Gewalt, der am Ende zum Kollaps des Faschismus in Portugal führt. Aber im 19. Jahrhundert war Algerien nur eine von etlichen Weltregionen, in denen weiße Siedler die Bewirtschaftung von Land übernahmen, mit den erwähnten allgemeinen Merkmalen. Gewiss, es gab Unterschiede im Gewaltniveau, aber soll man das betonen und nicht viel eher die allgemeine Erfahrung von Gewalt und die Entwertung nichtwestlicher Lebensentwürfe – wie immer sie im Einzelfall aussahen? Wenn man sich in die Situation eines Indigenen hineinversetzt, der sich mit Siedlerkolonialismus konfrontiert sieht, kann man sich gut vorstellen, dass das Interesse an Nuancen begrenzt ist. Wenn das eigene Lebensmodell von Männern mit Waffen als wertlos behandelt wird, dann ist die Farbe der Uniform nicht mehr so wichtig.
Darüber diskutierten die TeilnehmerInnen zunächst in Gruppen, dann wurden die Befunde auf der Tafel zusammengetragen. Und dieses Tafelbild bekam dann sehr schnell eine ziemlich dramatische Schlagseite, und zwar bei den Besonderheiten. Die französische Wissenschaft, bekanntlich schon im Absolutismus ziemlich gut aufgestellt, spielte schon sehr früh eine wichtige Rolle, und sie sah ganz anders aus als das, was Joseph Banks in Botany Bay so trieb. Die französische Innenpolitik, das Spiel der Mächtigen wirkte ungewöhnlich direkt auf das Kolonisierungsprojekt. Fast möchte man bei der Lektüre von Sessions von einem Projekt der imperialen Selbstvergewisserung sprechen, das Algerien vor allem deshalb traf, weil es halt vor der Haustür lag. Der französische Staat agierte als eine Entwicklungsagentur, die viel weniger Raum für autonomes Handeln in der Siedlerkolonie ließ als das ferne Australien. Es gab in Algerien staatsförmige Strukturen, gewiss fragil, aber doch machtvoller als die lockeren Gemeinschaften der Aborigines. Nur so konnte es zu den Verhandlungen kommen, bei denen der algerische Dey als lokaler Machthaber den französischen Konsul mit dem Fliegenwedel traktierte – ein wichtiger Anlass für die französische Okkupation (und ein schöner Beleg, dass manchmal farbige Anekdoten tatsächlich stimmen). Es ging gegen Nomaden mit eigenen Strukturen und gegen Menschen muslimischen Glaubens. Das imaginiert "jungfräuliche" Land gab es in Algerien nicht, sondern einen Boden, der vom Missmanagement der Indigenen befreit werden musste. In den französischen Köpfen steckte die Vorstellung, man müsse die nordafrikanische Kornkammer der Antike wiederherstellen – eine solche Restaurationsfantasie konnte es logischerweise weder in Australien noch in Nordamerika geben, denn beide Teile der Welt waren dem römischen Imperium vollkommen unbekannt. Kurz: alles sehr französisch hier.
Jede Nation hält sich für besonders, und die Grande Nation hält sich selbstverständlich in ganz besonderer Weise für besonders. Es gibt sehr viel, was Algerien zu einem ungewöhnlichen Fall macht, und zwar sowohl gegenüber anderen europäischen Kolonialmächten als auch innerhalb des französischen Kolonialreichs. Da hatte Algerien eine Sonderstellung, vergleichbar Indien im britischen Empire: Nach Algerien kam im französischen Kolonialismus erst mal eine ganze Weile nichts. Und doch wurde mir ein wenig mulmig, als sich die Tafel so einseitig füllte. Ist unser Blick hier nicht arg eurozentrisch, indem wir von den Besonderheiten Frankreichs so offenkundig fasziniert waren? Oder war das einfach die Vorliebe des Historikers für präzise, nuancierte Interpretationen und die Abneigung gegen abstrakte Denkschablonen? Aber an den Allgemeinheiten hängt auch ein moralisches Urteil und eine Erfahrung indigener Machtlosigkeit, die vielleicht in einer Geschichte des Siedlerkolonialismus einen besonderen Status verdient.
Ein Unterschied bleibt zu erwähnen: Die europäischen Siedler waren stets eine Minderheit im Land, beschützt von französischen Soldaten, bis 1962 die französischen Besatzer kapitulierten und die Siedler in Scharen übers Mittelmeer flohen. Die Algerier waren stets weit in der Überzahl und wären es auch dann geblieben, wenn die ambitionierten Zielvorgaben für Ansiedlungen erreicht worden wären. Darin war Algerien jedoch keineswegs exzeptionell, ähnliches gilt zum Beispiel auch für das heutige Zimbabwe. Darüber reden wir dann nächste Woche.

19. November 2024
In zwei Sitzungen durch die Geschichte Australiens, und dann ist auch noch die einzige Person, die tatsächlich mal im Land war, in dieser Sitzung krank. Ja, es ist ein Parforceritt, den diese Veranstaltung unternimmt, und das bei einem Thema, bei dem eigentlich Behutsamkeit, Sensibilität, Umsicht besonders wichtig wären. Universitäre Veranstaltungen sind immer nur Impulse, Einstiege, Aufforderungen zum Weiterdenken, aber selten wird mir das so schmerzhaft klar wie in diesem Hauptseminar. Es wird ja auch nicht besser mit der Hektik, nächste Woche geht es um Algerien in 90 Minuten. Aber es wäre ja auch nichts gewonnen, wenn man sich auf einzelne Aspekte zurückzöge, und viel verloren. Immer wieder merke ich in dieser Veranstaltung: Es gibt tatsächlich einen inneren Zusammenhang des siedlerkolonialen Projekts.
Anstelle einer Synthese (jenseits der dürren Chronologie auf der Grundlage des Ploetz) diskutierte die Veranstaltung australische Geschichte auf der Grundlage dreier Bücher, die drei verschiedene Dimensionen diskutierten. Goodalls „Invasion to Embassy“ diskutiert die Konflikte um Land (und den Konflikt um das, was Land bedeutet) im historischen Überblick von der Invasion bis in die 1970er Jahre. Der Aufsatzband „Creating White Australia“ von Carey und McLinsky versammelt Perspektiven auf „whiteness“, nicht nur im Banne des sozialdarwinistisch grundierten Rassismus, sondern auch als Teil der Alltagserfahrung etwa von Missionaren, die in der indigenen Australiens eine wichtige Rolle spielten. Marilyn Lake zeigt in „Progressive New World“, wie die Reformpolitik um 1900 in den USA auch von australischen Vorbildern (inhaltlich wie menschlich) inspiriert wurde. Das Referat schlug bei diesem Text eine betont kritische Note an, was vielleicht eine gewisse Berechtigung hatte. Lake präsentiert manche Protagonisten und ihre Reisen doch sehr detailverliebt. Wie bei vielen Arbeiten der Verflechtungsgeschichte bleibt die Frage offen, wie wichtig die Kontakte letztlich waren. Die ausgiebig zitierten Höflichkeitsfloskeln sind da vielleicht nicht der stärkste Beleg.
Insgesamt wurde jedoch deutlich: Siedlergesellschaften befinden sich auch untereinander im Austausch, um im Umgang mit ihren besonderen Herausforderungen einen Kompass zu gewinnen. Der Blick der US-Amerikaner nach Europa ist seit Daniel Rodgers „Atlantic Crossings“ gut dokumentiert, da kann man Lake als transpazifisches Komplement betrachten. Während in den beiden anderen Büchern Themen in Mittelpunkt standen, deren humanitäre Bewertung kein tiefes Grübeln erfordert, liefert Lake die schmerzliche Erkenntnis, dass gerade Sozialreform ein Doppelgesicht hatte: Neben die Hoffnung auf politisch-sozialen Fortschritt tritt die Selbstbehauptung gegenüber Nichtweißen. Vielleicht hatten Siedlergesellschaften durch die Präsenz der Indigenen ja einen besonderen Anreiz, die eigene Gesellschaft durch Reformpolitik voranzubringen – weil die anderen dann, wenn man schwächlich zurückblieb, vielleicht irgendwann übermächtig würden.
Im zweiten Teil der Sitzung stand der Aufatz „The Vanishing Endpoint of Settler Colonialism“ von Elizabeth Strakosch und Alissa Macoun zur Diskussion. Es war die erste Begegnung mit einem theorielastigen, moralisch rigorosen Tonfall, der einen erheblichen Teil der einschlägigen Literatur prägt. Aber wenn man mit einem Schreibstil fremdelt, sollte man sich sorgfältig prüfen, was denn das Problem ist: die Thesen? Die eigene Rolle als weißer Mann, der hier auf der Anklagebank sitzt? Oder das Fehlen für jedes Sensorium für Veränderung, jedenfalls wenn es in Form westlicher Fortschrittsnarrative daherkommen möchte? Letzteres war die zentrale Kritik des Aufsatzes, der jegliches Bemühen um Versöhnung und Reformpolitik als teleologisches Streben nach einer Zäsur, einem historischen Bruch kritisierte, der sich real immer weiter in die Zukunft verschiebt. Das Streben nach einem Schlussstrich wird hier mit jener kategorischen Absolutheit demontiert, für die postkoloniale Kritiker berühmt sind.
Man kann das Spiel natürlich auch in umgekehrter Richtung betreiben. Ein Student versuchte zu antworten mit dem Hinweis, es sei doch eine paternalistische Unterstellung, Indigenen ein grundsätzlich anderes Denken zuzuschreiben. In Lakes Buch findet sich eine durchaus irritierende Erörterung von „indigenous progressivism“, wo sich Indigene unrettbar intellektuell verheddern, indem sie Sprache und Anliegen des Progressivism für die eigene indigene Gemeinschaft mobilisieren wollen und damit unvermeidlich eine Assimilationspolitik leben. Oder sollte man sich da unschuldig stellen und sich freuen, dass Indigene für Bildung, Effizienz, Expertise, Reformpolitik eintraten – das große Paket des Progressivism, das ja selbst eher ein grober Sammelpunkt für unterschiedliche Anliegen war. Man sieht die Inkonsequenz beim anderen immer viel leichter als in der eigenen Innenwelt.
Wer intellektuelle Reinheit mag, wird in der postkolonialen Literatur immer gut bedient. Nur kommt man dann leicht an einem Punkt, wo der völlige Abbruch jeglichen Kontakts als einzige politisch-moralisch vertretbare Lösung erscheint – und das kann es ja nun auch nicht sein. Es ist schon deprimierend, wie Strakosch und Macoun die verschiedenen australischen Politiken der jüngsten Vergangenheit – reconciliation, neo-liberal contractualism, intervention – schon deshalb verdammen, weil damit ein transformativer Moment produziert werden soll, ein symbolträchtiger Bruch mit einer üblen Vergangenheit. Das ist von inneren Absichten der weißen Akteure völlig unabhängig, übrigens auch von der sozioökonomischen Lage der Indigenen, die hier gar nicht als legitimes Thema in den Blick kommt. Das ist der Punkt, wo ich mich frage, ob die postkoloniale Kritik nicht letztlich auf eine Verbrüderung mit Menschen hinausläuft, die man gar nicht so genau kennt und auch nicht kennenlernen will. Wenn Indigene nur noch als Schachfiguren in einem intellektuellen Spiel fungieren, ist das nicht nur ein fachwissenschaftliches Problem.
Das Instrumentarium der Geschichtswissenschaft will man nach der Lektüre von Strakosch und Macoun gleich steckenlassen. Differenzierung, Nuancen, Multiperspektivität – all das tut bestenfalls nichts zur Sache und ist schlimmstenfalls eine weitere Zumutung westlichen Denkens. Als Historiker fühlt man sich da wie eine Art Müllmann, der eine anrüchige Geschichte nach Skript in vorgefertigte Begriffscontainer entsorgt: kann man alles klassifizieren, aber halt nicht intellektuell verdauen und auch nicht historisch einordnen. Wenn der Endpunkt eine moralische Obszönität ist, wirkt es, als sei Siedlerkolonialismus zum ewigen Vegetieren in seinen eigenen Aporien verdammt. Aber vielleicht ist das ja zu verkopft?
In der Diskussion von Goodall monierte eine Studentin das Ende: glücklich erschöpfte Aborigines, die am Australia Day 1988 erst ausgiebig tanzen und dann ihre eigene Rituale des Heilens pflegen. Ist das nicht arg märchenhaft nach 200 Jahren Kampf ums Land auf allen Ebenen? Aber vielleicht helfen ja Rituale, wenn Worte versagen, und vielleicht gibt es die auch in einer säkularen Form. So schloss die Vorlesung mit einem Ausschnitt aus der Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Sydney 2000. Midnight Oil spielte „Beds are Burning“, ein Lied über das Elend der Aborigines, geschrieben nach einer Konzerttour durchs Outback, und auf den schwarzen Overalls stand „sorry“ – das Wort, das Premierminister John Howard damals nicht aussprechen wollte. Klar, nicht jeder denkt bei einer solchen Party über den Text nach. Aber wer hören will, der hört:

„The time has come.
A fact’s a fact.
It belongs tot hem.
Let’s give it back.“

Kein flüchtiger Endpunkt, aber eine starke Szene. Oder wäre auch das nicht okay, Frau Strakosch?

Der Auftritt ist nachzusehen auf diesem Video auf Youtube.

5. November 2024
Heute ist bestimmt nicht der beste Tag, um über okzidentalen Rationalismus zu sprechen. In den USA entscheiden die Wähler, ob sie noch einmal vier Jahre unter einem Präsidenten Trump leben wollen, und nach all den Lügen, gefälschten Videos und unhaltbaren Versprechungen kann man wohl sagen: Rational ist das nicht. Das ist ja schon länger das große Problem für alle, die nicht auf der rechtspopulistischen Welle surfen wollen. Das ist nicht nur ein Angriff auf grundlegende Werte des Zusammenlebens, ein Thema, bei dem ich nach zehn Jahren als Migrant naturgemäß besonders sensibel bin. Es geht auch darum, dass das alles rein logisch nicht zusammenpasst: die Worte nicht zu den Werten, die Ambitionen nicht zu den Zielen, die Methoden nicht zu den verfügbaren Ressourcen. Wer mag da noch über Rationalisierung sprechen?
Trotzdem begann ich meine heutige Veranstaltung mit ein paar Worten zum Thema, denn die abendländische Rationalisierung ist ein Eckpfeiler für ein Projekt, das grundlegend für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist: das Projekt der Moderne. Industrialisierung, Demokratisierung, Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung – das sind nicht alles isolierte Prozesse, die irgendwie zufällig zur gleichen Zeit einsetzen. Es gibt eine tiefe Verbindung zwischen den einzelnen Entwicklungen, einen Zusammenhang, der all diesen Prozessen seine transnationale Wirkmacht verleiht, und dieser Kitt ist ganz wesentlich das rationale, aufgeklärte Denken. Die Moderne hat einen ganz eigenen Sog, eine Art inhärente Unwiderstehlichkeit. Sie ist nicht alternativlos, schon gar nicht automatisch, es gibt Rückschritte und jede Menge Störgeräusche. Aber es gibt ein Telos der Geschichte und die Möglichkeit des Fortschritts.
Die große Zeit der Modernisierungstheorie waren die Nachkriegsjahrzehnte, in der sich das Modell mit der lebensweltlichen Erfahrung verschränkte. Demokratie, Wohlstand, Rechtsstaat, Wissenschaft und Technik – es wurde schon sehr viel sehr viel besser. Inzwischen ist uns diese Gewissheit verloren gegangen, aber es lohnt sich nachzudenken, was eigentlich neuerdings fehlt. Die Werte leben weiter, gerade auch in der rechtspopulistischen Rhetorik. Was fehlt, ist das Gefühl einer klaren, zumindest halbwegs stringenten Entwicklung. Es gibt keinen Fortschritt mehr, nur noch Krisen – zumindest fühlt es sich so an.
Warum ich all dies an den Anfang der Veranstaltung stellte? Hinter den unterschiedlichen Lesarten des Siedlerkolonialismus verbirgt sich auch die Frage, ob man noch an die Vorstellung von der Einheit der Geschichte glaubt. Gibt es noch die eine Erzählung, oder widmen wir uns vielmehr der Vielzahl von eigenen Narrativen, die Gruppen, Familien, Individuen für sich selbst entwickeln und kümmern uns nicht mehr um das große Ganze? In der heutigen Sitzung ging es um zwei Versuche, das große Ganze einer Gesellschaft zu verstehen, und in beiden Fällen standen sozioökonomische Prozesse im Mittelpunkt. Der moderne Kapitalismus schafft Unterschiede, aber auch Verbindungen – auch Ausbeutungsprozesse sind ja Verbindungen. Im Wirtschaftsleben gibt es noch am ehesten das große Ganze, jedenfalls dann, wenn dieses Wirtschaftsleben auf Arbeitsteilung und intensivem Austausch beruht, wie das beim modernen Kapitalismus der Fall ist.
Als erstes Buch stand "Why Nations Fail" von Daron Acemoglu und James Robinson zur Diskussion, zwei der drei Wirtschaftswissenschaftler, die in diesem Jahr den Nobelpreis erhalten. Es ist ein dickes Buch mit über 400 Seiten, auch wenn es die vielleicht nicht alle gebraucht hätte: Ein Referent beschwerte sich, dass es sich schon öfters wiederholt. Willkommen in den Wirtschaftswissenschaften! Da braucht es klare Modelle, Relationen, Konzepte, wenn man sich einen Namen machen will, und die sind hier die inklusiven und die extraktiven Institutionen. Acemoglu und Robinson betonen den Zusammenhang von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und nachhaltigem Wachstum, und die Verbindung sind demokratische Institutionen, die der Kontrolle durch eine breite Wählerschaft unterliegen – in ihrer Terminologie inklusive Institutionen. Die fallen nicht vom Himmel, sondern entwickeln sich durch den „virtuous circle“ – der Gegenbegriff zu Teufelskreis. Dazu gibt es ein Video, das die ReferentInnen auf einer PowerPoint-Folie zeigten, aber dankenswerterweise nicht abspielten.
Erzählungen von Modernisierungen sind qua Definition generalistisch, und das prägte mehrere Kommentare. Läuft das nicht auf ein simples, unterkomplexes Skript hinaus, auf Beliebigkeit in der Wahl der Beispiele, auch auf einen Fatalismus, wenn man halt in einem Land mit Institutionen auf dem falschen Gleis fährt? Acemoglu und Robinson betonen die Kontingenz der Geschichte, aber der besagte Sog ist auch hier spürbar. Das ist ja auch kein Baufehler, sondern der Kern des Ganzen: Die Dinge hängen halt zusammen und bewegen sich als Gesamtpaket in eine gewisse Richtung.
Mit Blick auf Siedlerkolonialismus war das größte Problem, dass die entsprechenden Länder in diesem Buch ziemlich gut abschneiden. Das Dumme ist nur: Die inklusiven Institutionen dieser Länder stehen für weite Teile ihrer Geschichte nur im Dienste weißer Menschen. Für dieses Thema sind die beiden Ökonomen denkbar wenig sensibilisiert: Sie wollen Wachstum, Wohlstand, einen stabilen, Innovation und Produktivität belohnenden Rahmen, der vielen Menschen dient – und wenn die „vielen“ halt nicht „alle“ sind, macht das doch keinen großen Unterschied von den luftigen Höhen der Wirtschaftswissenschaften. Das ist nur halt anders, wenn man nicht zu den „vielen“ gehört, und zwar qua Geburt.
Das Problem ist nicht gering, denn nach der Lektüre von Rana sind wir für das Doppelgesicht der Freiheit sensibilisiert. Man kann starke, robuste, rechtsstaatlich kontrollierte Institutionen gut brauchen, um Eigentumsrechte zu sichern und all die anderen Dinge, die der moderne Kapitalismus braucht. Den gleichen Staat kann man aber nutzen, um Menschen auszugrenzen und zu marginalisieren, die man nicht mag – wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft, Ethnie oder allem zugleich. Siedlergesellschaften basieren auf Ausgrenzung, und einer der wichtigsten Mechanismen ist staatliche Macht. Gerade die wahrgenommene Bedrohung der Siedler durch die anderen schafft einen Anreiz, staatliche Macht zu akzeptieren. So gesehen sind die inklusiven Institutionen der Siedlergesellschaften auch deshalb so robust, weil sie halt nicht jeden einbeziehen.
Wir müssen also schon über die Kühle des modernisierungsgeschichtlichen Blicks reden. Die tiefgekühlte Fassung liefert Lachlan McNamee in seinem Buch "Settling for Less": Dekolonisierung als höchste Stufe der kapitalistischen Entwicklung – mit freundlichen Grüßen an alle Marxisten. Ein Referent bemerkte, dass man beim Lesen merkt, dass McNamee kein Historiker ist (sondern Politologe mit Interesse an Demographie und Wirtschaftswissenschaften). Aber deshalb lesen wir ja diese Bücher: Vielleicht übersehen wir im Klein-Klein des historischen Handwerks ja die großen Trends.
McNamee schreibt vor allem über das 20. Jahrhundert. Damit stehen vor allem Länder im Mittelpunkt, die weiter kolonisieren und nicht westlich sind, die große Zeit der weißen Siedlung vor 1900 bleibt im Hintergrund. Er schreibt auch mit spürbarer Unlust über Rassismus und politische Radikalisierung – halt irgendwie irrational. McNamee schreibt über eine Welt, in der Akteure vernünftige Entscheidungen im Lichte ihrer sozioökonomischen Interessen treffen.
Das sieht konkret so aus: Ein Staat siedelt nur, wenn er das aus staatspolitischer Notwendigkeit für geboten hält. Oft sind jedoch Siedler die treibenden Kräfte, der Staat folgt dessen Wünschen nach Schutz und Unterstützung mit einer Haltung, die McNamee als "strategic fatalism“ tituliert: Wenn es denn sein muss, schickt man halt das Militär oder andere Kräfte, um Siedler zu unterstützen und die Gründung unabhängige Republiken zu verhindern – aber das kostet und kann zu langen Konflikten führen. So kam dann aus dem Publikum eine offenbar von Putin inspirierte Frage: Was ist, wenn der Staatschef ein anderes Land nicht anerkennt? Dann sagt McNamee lediglich, dass der Mann doch bitte mal an die Kosten denken möge.
Die Rationalitätsunterstellung ist zweifellos ein großes Defizit dieses Ansatzes. Dafür sensibilisiert das Buch für die unterschiedlichen Interessen von Siedlern und Staat: Sie agieren gemeinsam, aber ihre Sicht und ihre sozioökonomischen Kalküle klaffen auseinander. Das Buch zeigt auch, wie sich die Welt auflöste, in der freies Land noch ein Sehnsuchtsobjekt war. Wenn der Wohlstand in den urbanen Zentren zentriert ist, ziehen Siedler nicht mehr hinaus in ländliche Räume – eine Behauptung, die McNamee eindrucksvoll mit demographischen Analysen untermauert. Selbst China scheitert neuerdings mit Siedlungsprojekten im Nordwesten, weil die Großstädte locken.
Es bleibt bei beiden Büchern die Sprache. Beide Bücher dieser Sitzung pflegen einen distanziert-akademischen Sprachduktus, und man weiß nicht, ob das jetzt die Nüchternheit der guten Wissenschaft ist oder die Abgehobenheit der globetrottenden Intellektuellen. Darf man so schreiben, wenn es um das Leiden von Menschen geht, um Gewalt, um ausweglose Situationen, in denen nur noch der Frust wächst? Sprache ist nie ein bloßes Medium, sondern immer auch Teil der Analyse. Und man muss nicht zur emphatischen Schule der Geschichtswissenschaft gehören, um bei diesen beiden Büchern ein gewisses Frösteln zu verspüren.

29. Oktober 2024
Wer eine Veranstaltung über Siedlerkolonialismus macht, darf keine Angst haben vor dem G-Wort: Genozid. In der dritten Sitzung stand es erstmals im Zentrum, und bewusst stand dabei nicht die Definition im Mittelpunkt, sondern das Ereignis: die Folgen des US-amerikanischen Siedlerprojekts für die Menschen, die auf dem Territorium der späteren USA lebten. Wir werden in den letzten Sitzungen des Hauptseminars noch ausführlich über Wege der Erinnerung reden und über die Gespenster des 20. Jahrhunderts, die unser Reden über Genozide prägen. Aber zunächst steht die Ereignisgeschichte im Mittelpunkt, die Realgeschichte in Unterscheidung von der erinnerten Geschichte, und das mit gutem Grund. Erinnerungsforschung wird sehr schnell sehr luftig, wenn man sich nicht zunächst mit gebotener Sorgfalt dem historiographischen Kerngeschäft widmet.
Im Mittelpunkt dieser Sitzung standen zwei Überblicksbücher zur Geschichte der Vereinigten Staaten. Die "Indigenous People’s History of the United States" von Roxanne Dunbar-Ortiz ist eine klassische Synthese für einen breiten Leserkreis, der über Fachhistoriker hinausweist. Sie steht in der Tradition des Geschichtsrevisionismus von Howard Zinn’s "People’s History of the United States", die die marginalisierten Gruppen in den Mittelpunkt stellt und gängige Narrative als Elitenkonstrukte entlarvt. Der Schatten des "Manifest Destiny" ist lang, weitaus länger, als man sich eingesteht. Jeder weiß, was mit den Indianern passierte, aber nicht jedem ist klar, was das für die historische Erzählung des Landes bedeutet bzw. bedeuten sollte. Dunbar-Ortiz sieht das nicht als separates Kapitel einer einzelnen Gruppe, als abgrenzbares Teilgebiet, sondern als alternative Gesamtgeschichte. "This is a history of the United States", lautet der letzte Satz der Einleitung.
Im Mittelpunkt stehen die kriegerische Gewalt und die justizförmige Entrechtung sowie die Geschichte des Widerstands der Indigenen. Das ist eine Geschichte voller Blut und Leid, und da sind Ausweichbewegungen verlockend: Muss das wirklich so im Mittelpunkt stehen, in all seiner Entsetzlichkeit? Kriege verleiten zum Denken in Schwarz und Weiß und Vernichtungskriege erst recht, und wenn eine ethnische Gruppe ein Siedlungsprojekt von kontinentalen Dimensionen überlebt, dann wirkt die gründliche Dokumentation des grausigen Geschehens wie eine moralische Pflicht. Einerseits. Andererseits war in der Diskussion auch ein Unwohlsein zu spüren mit einer historischen Erzählung, in der die historischen Akteure vor allem als Gewaltopfer und Krieger auftauchten. Ist das wirklich alles, was wir erzählen sollten?
Eine Studentin warf die Frage auf, wo denn hier die Geschichte die Frauen bleibt. Weibliche Akteure hätten in dem Buch zweifellos mehr Profil gewonnen, wenn sich Dunbar-Ortiz mehr um Leben und Überleben zwischen den Kämpfen gekümmert hätte. Aber das alltägliche Wirtschaften kommt in dem Buch nur am Rande vor. Der Aufschwung der Kasinos in den Reservaten wird zum Beispiel nur ziemlich pflichtschuldig abgehandelt, und das ist vielleicht nicht nur ein Spiegel eines gewissen Reputationsproblems des Glückspiels. Wie redet man über das Alltagsleben von Menschen, die um ihr individuelles und kollektives Überleben kämpfen? Es wird nicht das letzte Mal sein, dass unsere Veranstaltung mit der hypnotischen Macht der Gewalterfahrung ringt. Wenn man in einer Leidensgeschichte über anderes redet, wirkt das leicht verharmlosend, so auf der Linie: Es gab aber auch gute Zeiten.
Dunbar-Ortiz bleibt insofern auf historiographischer terra firma. Rezensenten haben einzelne Zitat moniert, aber an der moralischen Obszönität des Siedlerkolonialismus und der Realität der Vernichtungskriege lässt sich nicht rütteln – die Frage ist eher, ob man das als Geschichte der USA zulässt und nicht nur als segregiertes Spezialgebiet. Das zweite Buch dieser Sitzung, Aziz Ranas "The Two Faces of American Freedom", ist thematisch affin und doch ganz anders. Es ist weniger eingängig geschrieben, und das ist nicht der einzige Grund, warum es eine zutiefst ambivalente Lektüre bietet. Einerseits betont Rana, wie die Siedlergesellschaft bestimmte Gruppen (Indigene, Schwarze, Frauen) rigoros vom Versprechen der Freiheit ausschloss: Kontrolle über Land und Menschen war das andere Gesicht der Freiheit für weiße Siedler. Andererseits favorisiert er eine Vision von freiheitlichem Leben, die eigentlich nur als Radikalisierung des Freiheitsversprechens gelesen werden kann: grenzenlose, egalitäre Freiheit, wie sie nur dezentrale, lokale Gemeinschaften sichern konnten, aber eben nicht die US-amerikanische Zentralgewalt der Verfassung. So ist die Siedlergesellschaft der USA auch ein gebrochenes Versprechen radikaler Freiheit, das einen Schatten auf alles Folgende wirft – auch die rechtliche Emanzipation der nichtweißen Bevölkerung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist für Rana keineswegs der Durchbruch lange überfälliger Gleichberechtigung: „rather than democratizing all of collective life, inclusion has become a means for incorporating previously subordinated communities into leadership roles“ (S. 328).
Man muss Ranas Vision radikaler demokratischer Freiheit nicht teilen, aber das Buch sensibilisiert für die Schwierigkeit, über Freiheit an der Frontier zu reden – jedenfalls dann, wenn man es nicht bei der moralischen Klage über die Entrechtung und Ermordung der Indigenen belassen will. Gab es vielleicht tatsächlich eine Chance, das eigene Leben tatsächlich in die eigene Hand zu nehmen, ohne die Aufdringlichkeit der modernen Staatsgewalt? Und wenn ja – wie hätte eine politische Ordnung aussehen könnten, die diese Freiheit bewahrt? Anders formuliert: Hatten die radikalen populistischen Visionen eines Thomas Skidmore, der Selbstbestimmung als universales (also nicht bloß weißen Siedlern zustehendes) Recht propagierte und von Rana mit offenkundiger Sympathie präsentiert wird, eine reelle Chance, oder war das eine Träumerei, die in der Welt der Realpolitik unweigerlich Schiffbruch erleiden musste?
Rana ist von Haus aus Jurist, und da sind erst einmal Rechtstitel im Blick. Aber Rechtstitel machen allein noch keine politische Ordnung, und erst recht sind sie weit weg von einem tragfähigen ökonomischen Regime. Die Zwänge kapitalistischer Distanzbeziehungen, von Cronon so plastisch beschrieben, kommen bei ihm als unheilvolle Bedrohung der Siedlerautonomie vor, der New Deal mit seinem Versprechen sozioökonomischer Sicherheit erscheint hier als Bedrohung partizipativer Bürgerschaft. Da wirkt es, als ob Rana den urbanen Industriekapitalismus vielleicht zu sehr durch die Brille der Siedlergesellschaften sieht. Aber wo und wie zieht man da in den USA die Grenze? Und ist Ranas Darstellung mehr als ein einzelner Strang einer Geschichte, in der sich eine Mehrzahl von Erzählungen verweben? Ein wenig fühlte ich mich am Ende der Sitzung wie in der Fabel der Blinden, die einen Elefanten ertasten. Jeder hat ein eigenes Narrativ mit jeweils eigenen Perspektivierungen. Aber was bleibt dann von der Einheit der Geschichte?

15. Oktober 2024
Empört Euch! So hieß die Streitschrift, mit der Stéphane Hessel 2010 Furore machte. Und das nicht nur, weil es selten gut endet, wenn Menschen jenseits des 90. Geburtstags eine Streitschrift veröffentlichen. Ein wenig vermisste ich die Devise in der heutigen Sitzung. Gewiss, eine kühle Distanz gehört zum akademischen Habitus. Aber heute hätte ich gerne einen Studierenden gehört, der mal mit den Konventionen bricht. Zum Beispiel so: Frederick Jackson Turner war ein rassistischer Chauvi, der sich nur für die Gewinner interessierte. Das wäre auch sachlich vertretbar gewesen. Turner wird seit 130 Jahre gelesen und diskutiert, und da klagt selten jemand über eine allzu große Sensibilität für all jene, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Sein Essay „The Significance of the Frontier in American History“ lädt vom Stil her freilich nicht zur Empörung ein. Turner pflegte einen nüchternen akademischen Stil. Brutal war der Inhalt: die Frontier als der Ort, an dem der amerikanische Charakter geprägt wurde. Stark, unternehmenslustig, praktisch veranlagt, experimentierfreudig, voll unruhiger Energie. Das passt eher schlecht auf Indigene oder auf Frauen, die es an der Frontier ja auch gab. Der weiße Mann als Held, jedenfalls dann, wenn er es packt. Selbst als ich Turners Bemerkung zitierte, die Sklaverei werde bestimmt mal als Fußnote der amerikanischen Geschichte („incident“) erkannt, wurde es im Raum nicht unruhig. Vielleicht erwarten heute Studierende vom späten 19. Jahrhundert nichts Besseres? Ich warf schließlich Laramie, Wyoming in die Debatte, den ersten Ort der Weltgeschichte, in dem anno 1870 Frauen als Geschworene auf der Bank saßen. Eigentlich hatte ich mir mit Blick auf die knappe Zeit Abschweifungen verkneifen wollten, aber das musste einfach sein. Es war ja auch nur konsequent, dass Frauen in Wyoming als Geschworene fungierten. Das Wahlrecht hatten sie ja schon im Vorjahr bekommen.
Natürlich hatte ich im Vorfeld der Veranstaltung überlegt, ob man Turner wirklich diskutieren sollte. Ein Klassiker, aber auch tief in der Mottenkiste. Das Dumme ist nur, dass die These innerhalb ihrer gesetzten Grenzen vielleicht gar nicht so falsch ist. Leben an der Frontier prägt Menschen, und für die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft war das „freie Land“ schon ziemlich wichtig. Klar war es nicht wirklich frei, aber Vorstellungen machen halt auch dann Geschichte, wenn sie falsch sind.
Die moralische Kritik gibt es dann in geballter Form in der nächsten Sitzung, wenn wir Dunbar-Ortiz’s „Indigenous People’s History of the United States“ besprechen. Heute gab es als Gegenentwurf Bill Cronons „Nature’s Metropolis“. Immer noch ein beeindruckendes Werk nach mehr als 30 Jahren, eine echte Tour de Force über die Koevolution des „Great West“ und der Metropole Chicago. Da wirkt die Frontier ganz anders: nicht als abgeschiedener Hort des Individualismus, sondern als eng und unerbittlich verknüpft mit der Zentrale. Darin bestand seinerzeit der Clou des Buchs. Plötzlich war das Ringen mit der Wildnis Teil von gesichtslosen Warenströmen.
Wir diskutierten die Wege der Kommodifizierung, die Anonymisierung, die Qualitätskontrolle und die Kriterien, die ihr zugrunde lagen. Ein netter Nebeneffekt: Man konnte mal was Positives über Populisten sagen, das geht ja heute nicht mehr so leicht. Im Amerika des späten 19. Jahrhunderts war der Populismus jedoch eine Protestbewegungen auf dem Land, die sich gegen betrügerische Geschäftspraktiken in den Metropolen wandte: Eisenbahngesellschaften, die ihre lokalen Monopole ausnutzten, und Getreidehändler mit großen Silos, in die niemand hineinschauen konnte. Da war es ein politischer Kraftakt, gewisse Spielregeln in das freie Spiel der Kräfte einzufügen. Man kann auch sagen, dass die Metropole die Möglichkeiten der Marktmanipulation ausreizte, bis ihr das Handwerk gelegt wurde. Wie gesagt: Empört Euch!
So bot die Beschäftigung mit Cronon einen Vorgeschmack auf die Nüchternheit des modernen Kapitalismus: Bitte keine Sentimentalitäten, es geht um Warenströme. Das Verschwinden der Indianer kommentiert Cronon ziemlich lakonisch, was aber irgendwie auch konsequent ist. Auch weiße Männer bleiben bei Cronon ziemlich gesichtslos. Als Handels- und Transfersystem hatte das Zusammenspiel von Chicago und seinem Hinterland etwas Grandioses: billiges Getreide, Fleisch, Holz für die Welt, zirkulierend in einem System, das binnen weniger Jahrzehnte aus dem Nichts entstand. Nur ging es halt nicht nur um Warenströme, sondern auch um Menschen. Aber wie redet man darüber, ohne in billige Sentimentalität zu verfallen?

8. Oktober 2024
Vielleicht wird man ja paranoid, wenn man eine Veranstaltung über Siedlerkolonialismus anbietet. Gestern ging ich von der U-Bahn-Station zur Ruhr-Universität und erschrak. Auf der Unibrücke gab es eine Demonstration mit deutlichem Männerüberschuss, jemand schwenkte eine schwarze Fahne, und es war der erste Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel. Natürlich war mir klar, dass ich mich damit im Laufe des Semesters würde beschäftigen müssen. Man kommt um den Themenkomplex Palästina/Israel nicht herum, wenn man eine Lehrveranstaltung über Siedlerkolonialismus macht. Aber muss das denn gleich am ersten Tag des Semesters sein, noch vor dem ersten Kaffee? Dann sah ich, was auf der schwarzen Fahne stand. Es war Semesterbeginn, und auf der Unibrücke versammelten sich die angehenden Bauingenieure.
Aber irgendwie passte das auch zum Thema. Man kann problemlos in einem Land wie den USA leben, ohne über das Wort „Siedlerkolonialismus“ nachzudenken. Aber wenn man das Wort einmal ausgesprochen hat und in seiner ganzen historisch-moralischen Signifikanz begreift, sieht die Welt plötzlich anders aus. Die Vereinigten Staaten sind ein Produkt eines globalen Projekts, das uns vollkommen fremd geworden ist. Weiße Europäer erschließen Land auf anderen Kontinenten, wirtschaften erfolgreich, oft unterstützt vom Netzwerk des westlichen Kolonialismus, sie bauen Gemeinschaften, Gesellschaften, Nationen, und all dies geschieht nicht nur unter den Augen der indigenen Bevölkerung, sondern oft im gewaltförmigen Konflikt bis hin zum Genozid. Kein vernünftiger Mensch käme heute noch auf die Idee, in der Manier weißer Siedler irgendwo auf diesem Planeten Land zu erobern. Aber zugleich stecken wir in diesem Projekt immer noch ganz tief drin.
Wer eine geschichtswissenschaftliche Konferenz in den USA besucht, wird bei der Eröffnung oft Zeuge eines „land acknowledgements“. Damit werden die indigenen Ureinwohner gewürdigt, und zwar als die Besitzer des Landes, auf dem man gerade tagt. Das hat dann zumeist keine Folgen für den weiteren Verlauf der Veranstaltung, schon weil man in den oft fensterlosen und gründlich klimatisierten Konferenzräumen amerikanischer Luxushotels kaum noch glauben mag, dass da unten irgendwo reales Land existiert. Aber was ist, wenn man das „land acknowledgement“ tatsächlich ernst meint? Dann landet man irgendwann bei der Frage, ob man das Grundstück, auf dem das eigene Haus steht, eigentlich noch guten Gewissens sein Eigen nennen darf. Ich habe es schon erlebt, dass über eine solche Frage diskutiert wurde, und zwar nicht unter rechtspopulistischen Wirrköpfen, sondern unter nachdenklichen Akademikern, die die Frage umtrieb, was eigentlich nach den Kalendersprüchen kommt.
Damit ist bereits deutlich: Für mich ist Siedlerkolonialismus kein Thema, dem ich mit persönlicher Unbefangenheit begegne. Ich habe in den USA studiert und insgesamt etwa drei Jahre in den USA verbracht, ich habe auch einige Wochen in Israel gelebt, weil meine Partnerin ein Praktikum in Haifa machte, und bevor ich nach Bochum kam, war ich zehn Jahre in England. Da traf ich das Erbe des Siedlerkolonialismus zum Beispiel in Form der Schulkameraden meiner Tochter. Als Historiker lebt man nicht einfach in Hier und Jetzt, sondern fragt nach der Herkunft von Vermögen, Privilegien, Aufenthaltsrechten. Aber wenn man das an Orten macht, die aus Siedlergesellschaften hervorgingen, öffnet sich da bisweilen ein Abgrund.
Da kann man einfach schweigen. Es ist schon erstaunlich, wie lange manche Siedlergesellschaften damit durchgekommen sind. Inzwischen ist das keine Option mehr: „Settler colonialism“ ist ein anerkanntes Thema der historischen Forschung mit einer beständig wachsenden Literatur. Das Hauptseminar bahnt sich einen Weg durch diese Literatur, mit besonderer Beachtung von fünf Siedlergesellschaften auf vier Kontinenten: USA, Australien, Algerien, Zimbabwe und Palästina/Israel. Das sind zwei quicklebendige Gesellschaften mit weißer Bevölkerungsmehrheit, zwei gescheiterte Siedlergesellschaften und ein Land im Krieg. Es ist der Weg, den man als Geschichtswissenschaftler nehmen sollte, wenn man sich mit fremden Ländern konfrontiert sieht: gute Bücher suchen, gründlich lesen und darüber nachdenken. Und dann reden wir darüber.
Das Gespräch ist der Kern eines Hauptseminars. Aber wie redet man angemessen über Siedlerkolonialismus? Eine wissenschaftlich akzeptable Redeweise sollte präzise und nüchtern sein, aber zugleich erlittenes Leid und begangenes Unrecht klar benennen. Sie sollte perspektivieren, ohne zu relativieren. Sie sollte Menschen ansprechen, aber zugleich zum Nachdenken anregen. Da sollte niemand sicher sein, immer garantiert die richtigen Worte zu finden.
So drehte sich ein erheblicher Teil meiner einführenden Bemerkungen heute um das Reden über das Reden. Wir müssen uns immer wieder dafür sensibilisieren, was in unseren Bemerkungen, Sichtweisen, Narrativen mitschwingt – auch und gerade für das, was uns gar nicht bewusst sein mag. Das wird beim hiesigen Thema leicht unangenehm, um nicht zu sagen schmerzhaft, aber da müssen wir durch – auch ich als Dozent. Mein einziger Wunsch an alle TeilnehmerInnen: Bitte gehen Sie davon aus, dass alle Anwesenden sich redlich und in Anerkenntnis der menschlichen Abgründe um angemessene Worte bemühen, jedenfalls so lange, wie Sie nicht das Gegenteil beweisen können.
Wenn man sich als Wissenschaftler in eine tagespolitische Debatte einmischt, dann schwingt meist die Hoffnung mit, dass man mit gesicherten historischen Kenntnissen und Methodenkompetenz klüger diskutieren kann. Aber was heißt das beim hiesigen Thema? Soll man wirklich auf Sachlichkeit setzen, wenn Menschen ihre Würde verlieren, ihr Land oder gar ihr Leben? Es geht beim hiesigen Thema um moralische Koordinatensysteme, die einfach nicht zueinander passen, um Erzählungen, die ohne den Gestus der Anklage oder das Gefühl von Scham nicht kommunizierbar sind, um Erinnerungen, die mit ethnischen Identitäten aufs engste verknüpft sind. Da wirkt die Kühle einer soliden geschichtswissenschaftlichen Diskussion leicht wie ein schrecklich naives Projekt. Aber vielleicht ist ja schon etwas gewonnen, wenn man etwas besser versteht, was da eigentlich passiert ist und was das für andere Menschen bedeutet. Die Zeiten sind vorüber, in denen wir eine einzelne Meistererzählung der weißen Siedler hatten. Ob wir mit mehr als einer Erzählung leben können, muss sich erst noch erweisen.
Nein, ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob wir in dieser Veranstaltung die richtigen Worte finden werden. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wir es versuchen müssen.